TransAlpineRun2023 – Teil 2: Das Rennen und der Tag, an dem ich nicht laufen durfte

 

Der TransAlpineRun (TAR) hat von seiner Historie her immer als Teamlauf gegolten. Seit diesem Jahr gibt es die Option, solo zu starten. Trotzdem hat mich von Anfang an die Idee begeistert, als Team anzutreten. Durch verschiedene Zufälle habe ich Adriane kennengelernt, und eines Tages beschlossen wir, den Lauf gemeinsam zu bewältigen. So wurde aus dem „ich“ ein „wir“. 

Sieben Tage als Team sind eine ganz besondere Herausforderung. Oft stellt sich erst unterwegs heraus, ob die Chemie stimmt oder nicht. 

Wir haben auch Teams gesehen, die sich gestritten haben, sich gegenseitig behindert haben und den Lauf abgebrochen haben. Denn gerade, wenn jeder an seine Grenzen kommt, wird es spannend…

💡 Erkenntnis 1️⃣ Commitment für uns als Team

Jeden Tag auf der Strecke gibt es verschiedene Zeitmesspunkte und Versorgungsstationen. Die Regeln besagen, dass der Zeitunterschied der beiden Läufer 2 Minuten nicht überschreiten darf. Wir mussten also zusammenbleiben und unsere Laufgeschwindigkeiten anpassen. Das klingt so einfach, ist es aber nicht. Jeder, der sich mal mit langen Wanderungen wie dem Jakobsweg beschäftigt hat, weiß, dass Teams dabei oft keinen Sinn ergeben. Hier lautet die Regel eher: Jeder geht sein Tempo. Was uns geholfen hat, war das klare Commitment für uns als Team. Uns war klar, wir treten als Team an und finishen auch als Team. PUNKT. So haben wir beide unsere Egos heruntergeschraubt und als Team funktioniert. 

Ich hatte stellenweise echt Schwierigkeiten damit. Adriane hatte sich an einem Tag verletzt. Sie war gezwungen, an manchen Stellen langsam und vorsichtig zu sein. Währenddessen war ich in diesem Moment völlig fit und voller Tatendrang. Am liebsten wäre ich in dieser Phase an ihr und an hundert weiteren Läufern vorbeigezogen. Ich hatte einen wirklich guten Tag.
Doch es war genau anders herum.  Wir wurden manchmal überholt. Mein kleines, dummes, männliches Ego hat manchmal getobt. Was mir in diesen Momenten geholfen hat: Ich habe mich immer an unser Commitment erinnert: „Wir laufen zusammen als Team.“ … und ich konnte mehr als dankbar sein, dass wir überhaupt noch im Rennen waren.
 
Danke, Adriane, für diese Erfahrung, sie war wirklich wertvoll für mich. Erfahrungen wie diese erinnern mich immer wieder an die „Commitments“ im Leben oder im Beruf. Denn oft geht es nicht nur um uns alleine, sondern darum, sich voll und ganz auf ein „wir“ einzulassen.

💡 Erkenntnis 2️⃣ Vergleichen kann eine Falle sein

Der TAR wurde zum 18. Mal ausgetragen und ist ein etabliertes Event in der Szene. In diesem Jahr starteten 865 Athleten aus 36 Ländern ihre Reise über die Alpen. Alle sind erstklassige Läufer, und einige betreiben den Sport sogar professionell. Sich mit diesen Menschen zu vergleichen, führt schnell zum Unglück.

„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“

– Søren Kierkegaard

Es gibt immer jemanden, der schneller ist. Es gibt immer ein Team, das schneller ins Ziel kommt. Es gibt immer jemanden, der reicher, berühmter usw. ist. 

… Ihr kennt das Spiel… Es hört nie auf. Ich kann dieses Denken auch nicht immer abschalten; manchmal kommen diese Gedanken einfach hoch. Dieser Lauf hat mir immer wieder gezeigt, dass ich angetreten bin, um meine eigenen Ziele zu erreichen. Nicht, um mich mit anderen zu vergleichen. Auch wenn es verlockend war, auf die Ranglisten und Zeiten zu schauen. Und manchmal darf man dafür natürlich auch stolz sein, versteht mich nicht falsch.  Aber wenn ich mich wirklich mit jemandem messen möchte, dann vergleiche ich mich mit mir selbst. Und mit meinen vorherigen Leistungen. 

Getreu dem Motto:  beat YOUR yesterday

💡 Erkenntnis 3️⃣ Fokus und Achtsamkeit

Was mir vor diesem Lauf nicht bewusst war, war die enorme Verletzungsgefahr. Im Schwarzwald in den Bergen zu joggen, ist technisch gesehen relativ einfach. Was neu für mich war: Die permanente Verletzungsgefahr in den Alpen, besonders ab einer gewissen Höhe.
 
Die Wege und Trails in den Alpen sind teilweise sehr technisch. Manchmal kann man von Wegen gar nicht mehr sprechen. Es ist eher eine gedachte Route durch Felsblöcke und unwegsames Gelände. Manchmal ist auch Klettern und das Abseilen am Seil angesagt.
 
Sich in diesem Gelände flott zu bewegen, ist eine reine Achtsamkeitsübung. Präsenz ist alles. Ein Fehltritt, und das ganze Rennen kann vorbei sein. Wir haben sogar das Siegerteam des Vortags gesehen. Sie kamen uns den Berg herunter entgegen. Sie waren umgeknickt und der Knöchel war kaputt. Das war’s für sie. An einer anderen Stelle ist direkt neben uns ein Hubschrauber gelandet, um einen anderen Läufer nach unten zu bringen.
 
Und auch uns hat es erwischt…

 

💡 Erkenntnis 4️⃣ Upsets, Niederlagen, emotionale Momente

… genau in der Mitte des Wettbewerbs.
Am vierten Tag, exakt nach 21 km knickte Adriane in einem schwierigen Teil voller Felsen um.
Ich habe es in diesem Moment nicht gleich gesehen, aber ich habe es sofort gehört, dass etwas nicht stimmte. Zuerst brach ihr Carbonstock – ein eigenartiges Geräusch, das nichts Gutes verhieß. Dann hörte ich sie fluchen und sah, wie sie ihren Knöchel umfasste.
Es war der Moment, in dem die Zeit stillzustehen schien. Es ging so viel durch meinen Kopf. War es das jetzt? Mussten wir Hilfe holen? Konnte sie irgendwie weiterlaufen? Musste ich mich von ihr trennen, damit ich wenigstens im Rennen bleiben konnte? 
Doch erstmal setzten wir uns und machten eine Zwangspause.
Was Adriane schließlich half, waren zwei Dinge.
Erstens: Ihre Willensstärke. Sie hatte das Ziel, das Rennen abzuschließen. Sie sagte sich: „Ich komme in Italien an!“ und mobilisierte all ihre Willenskraft, um aufzustehen. Das war beeindruckend, denn sie hätte auch einfach liegen bleiben können. Aufstehen für die eigenen Ziele, gerade wenn es einem nicht leichtfällt – Hut ab, Adriane! Diesen Moment werde ich nicht vergessen.
Zweitens: Sie hatte Glück. Der Knöchel sah nicht gut aus. Doch nach einer Pause und zwei Schmerztabletten später verbesserte sich die Situation etwas. Die Bänder waren noch dran, es gab keinen Bruch und der Wille war noch immer ungebrochen. So konnten wir erstmal weiter. Und glücklicherweise schafften wir es innerhalb des Zeitlimits ins Ziel. Doch auch der nächste Tag sollte für mich zur großen Herausforderung werden…
 
 
Meine größte mentale Herausforderung: „Der Tag, an dem ich nicht laufen durfte“ 
Mein tiefster Punkt des Wettbewerbs und wie ich damit umging.
 
Starker Regen und Gewitter zwangen die Veranstalter, die fünfte Etappe des Transalpine Runs von Klosters nach Scuol aus Sicherheitsgründen abzusagen. Wir wurden direkt zum Zielort in Scuol geschickt. Absage! Heute kein Rennen, und das ausgerechnet an der Königsetappe!
 
Ich hatte mich auf 48 km und 3000 Höhenmeter eingestellt und dann durfte ich nicht laufen. Manchen mag das gefreut haben, und ich kann es verstehen, besonders wenn man am Anfang zu schnell gestartet ist, am Limit ist oder verletzt ist… oder aus welchem Grund auch immer.
 
Aber ich war fit und darauf vorbereitet. Hätte mir jemand gesagt, ich sollte heute 48 km im Kreis auf der Tartanbahn laufen – ich hätte es sofort gemacht. Es war unglaublich frustrierend für mich, vor allem, weil jemand anders über meine Teilnahme entschied.
 
Wir wurden angewiesen, in den Zug oder ins Auto zu steigen. Wir sollten zum Zielort fahren. Es bestand die Hoffnung, dass sich das Wetter bis zum Nachmittag verbessern würde. Dann würde es ggf. noch einen Bergsprint geben. So machte ich mich total verärgert auf den Weg.
 
Wie bin ich damit umgegangen? Mein Ziel wurde mir genommen, und ich reagierte verärgert. In diesem Moment war ich nicht in der Lage, das Beste daraus zu machen. Als mir das bewusst wurde, änderte sich die Situation. Ich sagte mir: „Sven, deine Flexibilität ist das eigentliche Problem.“ Ich ermahnte mich, mit der Situation umzugehen und nicht zu jammern. Das half. Nun lag das Problem wieder bei mir, und ich konnte etwas dagegen tun. Das mag verrückt klingen. Aber manchmal hilft es mir, das Problem auf mich zu verlagern. Denn dann kann ich etwas ändern.
 
Ein paar Stunden später hörte ich auf, den Tag schwarz zu malen. 
Und ich konnte die wundervolle Gesellschaft der anderen Läufer, die guten Gespräche und die Zeit für ein ausgiebiges Frühstück genießen (Danke euch!). Später bestätigte der Veranstalter auch, dass wir um 15:00 Uhr einen Bergsprint laufen würden. Die Strecke war ca. 8 km lang mit 900 Höhenmetern. Sie verlief steil bergauf. Und so war es dann auch wieder mit meiner Laune: Es ging steil bergauf – Alles war wieder gut.
 
 

💡 Erkenntnis 5️⃣ Die Kräfte einteilen: Sustainable Pace

Ich weiß nicht, ob ich die 7 Tage ohne meine Laufpartnerin Adriane geschafft hätte. Sie war eine großartige Pacemakerin. Ihre Einteilung der Kräfte war weise. Ich hätte wahrscheinlich in den ersten Tagen viel zu schnell angefangen und wäre in den typischen Anfängerfehler gefallen. Dann wären mir möglicherweise die Kräfte ausgegangen, oder ich hätte mich verletzt, weil ich zu viel Risiko eingegangen wäre. Adriane hat von Anfang an ein nachhaltiges Tempo vorgegeben, so dass wir uns die 7 Tage sogar steigern konnten. Das klingt so logisch und einfach, war es aber nicht.

Wir wussten nicht genau, welche Belastungen auf uns zukommen würden. Natürlich kannten wir die Kilometeranzahl, aber mit einigen Dingen hatten wir nicht gerechnet. Der Körper macht während so eines Laufs einiges mit: Um es greifbar zu machen, habe ich einige interessante Fakten gesammelt:

 

👉 In den 7 Tagen waren wir insgesamt 43 Stunden auf der Rennstrecke. Schlaf hatten wir in diesen Tagen nicht viel. Manchmal mussten wir vor 4 Uhr aufstehen. Auch die Schlafqualität war nach dem zweiten Tag völlig dahin. Ich kam nicht mehr in den Tiefschlaf und lag oft lange Zeit wach. Das waren Dinge, die ich so gar nicht kannte – eine völlig neue Belastung.

 

👉 Bei jedem Schritt bergab wirkt das Siebenfache des Körpergewichts auf die Gelenke. Das bedeutet über die Tage hinweg eine Belastung von 8.000 Tonnen pro Knie, pro Knöchel usw.

 

👉 Ich habe über 20.000 Kalorien verbrannt, das entspricht mehr als 26 Pizzen 🍕 So viel kann man die Zeit über gar nicht essen.

 

👉 Meine Uhr hat einen Flüssigkeitsverlust von über 30 Litern berechnet.

 

Meine Sportuhr, die diese Schätzungen errechnet, überwacht auch viele weitere Körperfunktionen. Nach dem dritten Tag lagen die Messwerte für den Ruhepuls und die Herzvariabilität deutlich im roten Bereich. Normalerweise sind das Anzeichen dafür, dass man eine Pause einlegen sollte. Aber das Faszinierende ist: Der Körper liefert immer noch seine Leistung, solange man es nicht übertreibt und die Kräfte klug einteilt.

 

Zum Schluss ...

 
Heute, drei Wochen nach dem Event, bin ich wieder gut erholt. Und alle meine Werte sind wieder im „grünen“ Bereich. Wenn ich auf diese Herausforderung zurückblicke, bin ich so froh und dankbar für diese Erfahrung. Sie hat mich geprägt und gestärkt, und ich habe gelernt, wie sehr ich meine persönlichen Grenzen erweitern kann. Und das nehme ich fürs Leben mit: Die meisten Grenzen existieren nur in unserem Kopf.
  

Schlussworte von Adriane

„Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen“ 

– Dies ist nicht nur eine bekannte Liedzeile, sondern auch der Leitspruch unseres TransAlpine Run Abenteuers. Danke, Sven, dass du mir gezeigt hast, was es bedeutet, aufeinander Acht zu geben und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Dieses Abenteuer hätte ich ohne dich nicht bewältigen können. Brauchte ich Hilfe, warst du sofort und unaufgefordert zur Seite um mir zu helfen, egal was um uns herum passierte.
Du hast uneigennützig den Gedanken des Miteinanders verfolgt und mich zu keiner Sekunde glauben lassen, dass ich dir das Rennen vermiesen oder dich ausbremsen würde. Im Gegenteil, du hast auf den richtigen Moment gewartet, wenn ich meine Kräfte wiedergewonnen hatte und wieder auftreten konnte. Dann hast du mich daran erinnert, dass noch mehr in mir steckt. 

Ich erinnere mich an deine Worte: „Trau dich zu überholen, das ist jetzt nicht mehr deine Pace.“ In Momenten wie  diesen warst du eine unglaubliche mentale Unterstützung. So hast du das Beste aus mir herausgeholt, und gemeinsam haben wir gegen Ende des Rennens sogar wieder Plätze gutgemacht.

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